Auf dem Weg der Sinne …
Seit 2001 führt der Rothaarsteig im Sauerland 154 Kilometer weit über die Kämme der Mittelgebirge. Wir haben ihn auf einer abwechslungsreichen Route drei Tage lang ausprobiert. Ein tolles Erlebnis!
Kaum sind wir gestartet, taucht auch schon das erste Problem auf: Die Wanderschuhe meiner Tochter drücken unerwartet, weil ihre Füße in den letzten Wochen weiter an Länge zugelegt haben. Nur gut, dass wir noch in Winterberg sind: Zentrum des Tourismus im Hochsauerland mit vielen Restaurants, Cafés und Läden, die überwiegend in der Hand holländischer Gäste sind. In einem gut sortierten Sportartikel-Geschäft werden wir dank professioneller Beratung schnell fündig. Eine Dreiviertelstunde später kann es endlich weiter gehen – immer dem liegenden, weißen R auf rotem Grund nach, das den Rothaarsteig markiert. 154 Kilometer weit führt er seit 2001 mit 3.931 Höhenmetern durch 27 Gemeinden über die Kämme der Mittelgebirge von Brilon nach Dillenburg – zum Teil auf der Basis bereits bestehender Wege, zum Teil neu angelegt, um besonders reizvolle Abschnitte wie jenen schmalen Pfad einzuziehen, der sich nahe Winterberg über Baumwurzeln vorbei an Farnen durch den Nadelwald schlängelt.
Erste Ausblicke über das „Land der 1000 Berge“ beschert uns der Aufstieg auf die St.-Georgs-Schanze, von der sich Skispringer in die Tiefe stürzen und dabei knapp 90 Meter erzielen können. Nicht minder mutig finden wir die Mountainbiker, die den Erlebnisberg Kappe rasant hinunterkurven. Wie moderne Ritter sind sie mit ihren coolen Helmen, Knie- und Schienbeinschonern unterwegs, während wir sie von der 435 Meter langen Panorama-Brücke aus der Vogelperspektive beobachten. Aber auch Clara hat hier oben ihren Spaß, da sie an mehreren Stationen durch große Netze und Röhren klettern und über Taue balancieren kann, bevor am Ende eine steile Rutsche in die Tiefe führt – Vorgeschmack auf ihre anschließende Abfahrt mit der Sommerrodelbahn. Attraktionen ganz anderer Art folgen beim anschließenden Aufstieg auf den Kahlen Asten. Erntereife Heidelbeersträucher überziehen die Hänge des 842 Meter hohen Gipfels, so dass wir immer wieder zum Naschen anhalten müssen. Als wir oben ankommen, sorgen ein frischer Wind und kalte Getränke im Turmrestaurant für Abkühlung, bevor wir an der Lennequelle vorbei zum Ende unserer Tagesetappe absteigen: Langewiese. Erster Willkommensgruss ist ein Bad für unsere müden Füße im Kneippbecken am Rande des Dörfchens. Dann freuen wir uns über das leckere Abendessen und bequeme Betten im Landgasthof Gilsbach, den das Touristik-Team des Rothaarsteigs für uns reserviert hat.
Beim Frühstück am nächsten Morgen dürfen wir uns mit Broten und Obst für unterwegs eindecken – ein Service zu anderen Leistungen wie Tourenberatung, Gepäcktransfer oder Ausrüstungsverleih, mit dem sich 107 Qualitätsbetriebe entlang des Rothaarsteigs auszeichnen. Verhungert wären wir auf dem nächsten Teilstück aber auch ohne unser Lunchpaket nicht: Rechts und links des Weges wachsen Himbeeren in Hülle und Fülle, die zu hunderten in unseren Mägen landen. Das gemeinsame Laufen schärft aber auch den Blick für andere Dinge: Farbexplosionen aus gelben Blumen, lila Sträuchern und roten Vogelbeeren. Bussarde, die auf der Suche nach Beute am blauen Himmel kreisen. Einen kleine Maulwurf mit kuschelweichem Fell und kräftigen Grabhänden, der tot im Staub liegt. Oder quer über die Route hüpfende Fröschchen, die Clara mit ihrer neuen Kamera genauso fotografiert wie eine glänzende Blindschleiche oder vorbei huschende Eidechsen. Mit etwas Glück könnten wir auch Wisenten begegnen, die hier in einem Artenschutzprojekt ausgewildert wurden. Wir selbst bekommen zwar keines der rund zwei Dutzend Tiere zu sehen, die seit 2013 frei durch ein 4.300 Hektar großes Gelände streifen dürfen Der Wirt unseres heutigen Hotels Bräutigam-Hanses hat sie aber schon häufiger auf den Wiesen seines einsam gelegenen Heimatörtchens Schanze beobachtet, das im Winter ein Langlauf-Dorado ist.
Stattdessen säumen überdimensionale Sehenswürdigkeiten den Rest unserer Dreitages-Route: Skulpturen bekannter Künstler, die seit über zehn Jahren zwischen Schmallenberg und Bad Berleburg inmitten von Natur pur stehen: zuerst ein schräg nach oben ragender Krummstab aus Aluminium neben dem „Kyril-Pfad“, der als aufschlussreicher Hindernis-Parcours durch einen Wirrwarr entwurzelter Bäume die Folgen des gleichnamigen Sturms 2007 dokumentiert. Dann nach einem Zwischenstopp im urigen Bauernhof-Biergarten Kühhude ein überwucherter Falke in Größe XXL, später Nils-Udos tempelartige Kombination aus einem riesigen Felsquader und dicken Baumstämmen namens „Stein-Zeit-Mensch“.
Schwer beeindruckt sind wir auch von der wackeligen Hängebrücke, die über eine kleine Schlucht führt; kurios finden wir Gloria Friedmanns „Grünstation“, die in Form eines kleinen Hauses um Fichten herum gebaut wurde, und Magdalena Jetelovás 6,5 Meter hohes, vergoldetes Ei namens „Was war zuerst?“. Wenig mehr als drei Kilometer sind es von ihm aus noch bis Bad Berleburg, das wir bereits unten im Tal liegen sehen. Doch die dehnen sich gefühlt auf das Doppelte, weil nach drei Tagen Marschieren die Rucksäcke auf den Schultern drücken, die Fußsohlen brennen und die letzten T-Shirts durchgeschwitzt sind. Umso heroischer fühlen wir uns, als wir endlich am Bahnhof ankommen, wo wir vor drei Tagen das Auto abgestellt und den Bus nach Winterberg genommen haben. 45 Minuten auf der Straße dauerte die Hinfahrt, drei Tage à vier bis sechs Stunden Lauf-Zeit der Rückweg auf dem Rothaarsteig: für uns drei eine anstrengende, aber auch bereichernde Erfahrung auf einem abwechslungsreichen „Weg der Sinne“.