„Mami ein Erdbeben!“ Juri (5) rüttelt mich mitten in der Nacht aus den tiefsten Träumen. Der Planwagen wackelt so bedrohlich, dass die Teetassen über der Spüle klappern. Draußen allerdings scheint es mir zu still für eine Naturkatastrophe. Vorsichtig öffnen Justus (13) und Jonah (11) die Tür und schleichen sich mutig aus dem Wagen. Sekunden später schallendes Gelächter als Entwarnung: Die „Naturkatastrophe“ ist Taffee. Genüsslich grunzend schubbert Taffee sein gewaltiges Hinterteil am Wagen. Als er die ganze Familie in der Tür stehen sieht, hält er verwundert inne und schaut uns freundlich an. Mit Pferd und Wagen durch Irland – cool! Unsere Kinder waren Feuer und Flamme als wir unsere Reisepläne verkündeten: Sieben Tage lang wollen wir uns von der Zivilisation verabschieden und uns auf ein neues Abenteuer einlassen: Die Entdeckung der Langsamkeit – wie Zigeuner im Planwagen ein Stück Irland kennen lernen. „Und wer fährt den Wagen?“, fragen die Kinder. Na, wir natürlich! Nur eine Stunde dauert die Fahrt im Taxi vom Flughafen Dublin nach Coolrain. Hier liegt die Farm Kilvahan Horse-Drawn Caravans, wo unser Planwagenabenteuer beginnt. Mit 80 Pferden, Schweinen, Mini-Ponys, Hunden und Zwerg-Eseln leben Julia und Hans, zwei Pferdenarren aus Deutschland, auf ihrer Farm. Sogar ein Zebra und Kamel gehören zum Privatzoo und natürlich die Traditionell Irish Cobs, oder Irish Tinker, wie die kleinen schweren Wagenpferde heißen.
Wir verstauen unser Gepäck im Wagen und meine Befürchtungen hinsichtlich der Plätze bestätigen sich glücklicherweise nicht. Außer Gasherd, Geschirrschrank und Spüle gibt es auch Kommode, Kleiderschrank und Garderobe im Zigeunerwagen. Julia und die Kinder holen derweil „unser“ Pferd von der Weide. Stolz führt Jonah Taffee, einen 19 Jahre alten braunen Wallach, zum Caravan. Für die Fahrt mit dem Planwagen sind keine Pferdekenntnisse erforderlich, steht in der Info-Broschüre und Julia bestätigt dies zu meiner Beruhigung noch einmal: „Taffee ist ein echter Profi. Auf den ist Verlass.“ Viele von Taffees Stallgenossen haben Kohle-, Bier- und Güterwagen durch die Städte gezogen, bevor sie zum Tourismus gelangten. Sie kennen ihren Job. Dennoch verfolge ich das Einschirren mit Skepsis: Trense, Halskoppel, Zugriemen und Schweifgurt – das Pferdegeschirr erscheint mir wie ein einziges Wirrwarr von Lederriemen. Ob wir das allein schaffen? Aber Julia zeigt uns jeden Handgriff und beim zweiten Versuch klappt es dann auch schon ohne Hilfe.
Zum Abschied erhalten wir einen Ordner, in dem Umgang mit Pferd und Wagen noch einmal ausführlich beschrieben ist. Dazu Routenvorschläge, ein Verzeichnis der Übernachtungsplätze und Sehenswürdigkeiten und natürlich Julias Telefonnummer – für alle Fälle.
„Walk on“! heißt für Taffee das Kommando zum Start. Gehorsam setzt er sich in Bewegung und zieht den schweren Wagen vom Hof: Im Schritttempo zuckeln wir durch die Hügellandschaft der irischen Midlands. Vorbei an grün leuchtenden Wiesen, Mohnblumen und Palmen. Neugierig schauen Kühe dem bunten Gefährt hinterher. Schon bald lenken Justus und Jonah unseren braven Taffee ganz allein über die schmalen Landstraßen. Fröhlich bellend begrüßen uns die Hunde der kleinen Höfe am Wegesrand. Fremde sind in dieser Gegend eine Seltenheit. Unser erster Stopp heißt Pike of Rushall. Farmer Mike hilft beim Ausspannen, zeigt uns wo wir die Waschräume und Wasser zum Kochen finden. Es ist eine neue Erfahrung für die Kinder im Wagen ohne Strom und Wasser aus dem Hahn zurecht zu kommen. Taffee grast zufrieden neben dem Wagen und die Kinder sammeln Stöcke. Während es langsam dunkel wird, braten wir Würstchen über dem offenen Feuer.
Klack, Klack , Klack, Klack – im Vierteltakt geht es am nächsten Morgen weiter. Juri läuft ein Stück neben dem Wagen „Haben hier echte Ritter gelebt?“ Er hat ein verfallenes Steinhaus entdeckt. Mehrmals am Tag machen wir eine Pause, damit Taffee sich ein wenig erholen kann und weil Zeit keine Rolle spielt. Wir kochen Tee, weil das in Irland dazugehört, und die Jungs braten nach selbst erfundenem Rezept Käsetoast auf dem Gasherd im Wagen.
Das einzige, was in Irland schnell passiert, ist der Wetterwechsel. Innerhalb einer Stunde erleben wir schönsten Sonnenschein und heftige Regengüsse. Am Abend spannen wir eine Wäscheleine quer durch den Wagen und trocknen die Kinderhosen. Zwei kleine Gaslampen verbreiten gemütliche Wärme und anheimelndes Licht. Mit wenigen Handgriffen bauen wir Esstisch und Bänke zu Betten um. „Ich habe Taffee nicht Gute Nacht gesagt!“ Juri schlüpft im Schlafanzug in seine Gummistiefel und springt mit einem Apfel in der Hand aus dem Wagen. Taffee gehört längst zur Familie.
Die irische Gastfreundschaft ist überwältigend. Überall werden wir wie Freunde begrüßt. Man lädt uns zum Tee ein, hilft uns mit Pferd und Wagen, oder bringt uns sogar mit dem Auto zum Einkaufen ins nächste Dorf. „Do you like a Full Irisch Breakfast?“ fragt Moira, nach unser Ankunft im Castletown House in Rathdowney! Ich finde das klingt nach fünf Tagen Kochen im Wagen sehr verführerisch. „Das ist ja total uncool!“ meinen die Männer. Dennoch gelingt es mir, sie am nächsten Morgen an Moiras liebevoll gedeckten Frühstückstisch zu versammeln. Leckere Castletown Pankakes und heißer Kakao versöhnen die Jungs mit dem Frühstück im Haus. Mein Mann und ich verputzen das gesamte „Full-Breakfast “: warmen Toast mit Orangenmarmelade, Irish Pudding, gebratene Würstchen, Eier mit Speck. „Wohin bist Du als Kind verreist?“, fragt Justus. Die gesamte Familie sitzt eng gedrängt auf dem Kutschbock. Die Langsamkeit der Reise gibt viel Zeit für Fragen, für die im Alltag oft keine Zeit ist. „Können wir nicht auch ein Schaf im Garten haben?“, fragt Juri. „Oh ja“!, stimmen Jonah und Justus sofort ein. „Ich nehme eine Schaf-Frau und du einen Schaf-Mann und dann …“! Nachts prasselt wieder einmal der Regen auf das Caravan-Dach. Auf das irische Wetter kann man sich nicht verlassen, aber wen kümmert das schon?
Wir bedanken uns bei Visit Ireland für die freundliche Unterstützung.