Viertel der Verführungen
Im Norden sanft mit Millionen von Birnbäumen, im Süden wild rund um den Ötscher – das niederösterreichische Mostviertel hat viele Seiten für ein spannendes Kontrastprogramm. Wunderbar für aktive Familien!
Wien kennt jeder, die Wachau auch. Das niederösterreichische Mostviertel hingegen sagt den meisten Deutschen so wenig, dass sie nur selten bei Amstetten von der Westautobahn abbiegen. Dabei wäre es schade, die abwechslungsreiche Region je nach Reiserichtung rechts oder links liegen zu lassen: Im Norden gedeihen in einer sanften Hügellandschaft über 300 Birnensorten an jahrhundertealten Bäumen. Im Süden ragt als raues Kontrastprogramm weithin sichtbar der 1.893 Meter hohe Ötscher empor, den ein 170 Quadratkilometer großer Naturpark mit Schluchten, Wasserfällen, ursprünglichen Wäldern und Almen umgibt.
Erlebnisausstellung und Mostviertel-Karaoke
Was es mit dem Namensgeber der gesamten Gegend auf sich hat, erfahren wir im modernen Mostbirnhaus in Ardagger Stift: In der Spezerei reihen sich typische Produkte vom Most, mit dem hier der sorgsam vergorene Birnen- und Apfelsaft gemeint ist, über Liköre, Edelbrände, Marmeladen, Säfte und Balsamessig in Verkaufsregalen aneinander. In der Etage darüber beginnt eine interaktive Erlebnisausstellung: Mit Filmen, Spielstationen und Schaukästen erklärt sie, dass schon die alten Römer gerne Obstwein tranken. Nachdem Kaiserin Maria Theresia ab Mitte des 18. Jahrhunderts Birnbäume entlang sämtlicher Landes- und Bezirksstrassen anpflanzen ließ, entwickelte sich Most zum beliebten Volksgetränk, das heute in Varianten vom spritzigen Cider bis zu Gourmet-Cuvées hergestellt wird. Die Früchte dafür reifen im größten geschlossenen Birnbaumgebiet Europas an über einer Million Bäume, von denen einzelne bis zu 1.000 Kilo Ertrag pro Jahr bringen können. Im Frühling wogt ein weißes Blütenmeer über den weiten Streuobstwiesen; ab Ende September werden die reifen Birnen, die zum Essen zu hart und sauer sind, zu Boden „gestangelt“, dann per Hand oder mit Maschinen aufgeklaubt und schließlich gepresst – eine harte Arbeit, die wir bei einem kleinen Wettkampf ausprobieren können. Viel Spaß haben die Mädchen ebenfalls beim „Mostviertel-Karaoke“: dem Nachsprechen von Dialekt-Begriffen wie „Gankerl“ für Spitzbube oder Schlingel, wie ein pfiffiger Bauernjunge auf dem Bildschirm erklärt.
Parcours mit Pfeil und Bogen
Die Besitzer der vielen behäbigen Vierkanthöfe, die verstreut zwischen Wiesen und Feldern liegen, sind aber nicht nur Most-Erzeuger. Mindestens zehn Wochen pro Jahr bewirten zahlreiche von ihnen auch als Heurige Gäste. Zum Beispiel Familie Pihringer, die auf ihrem Schiselhof unweit von Winklarn ein weiteres Extra anbieten: einen Parcours, den wir mit Bogen und je drei Pfeilen pro Person erkunden. Nach einer kurzen Einweisung in die korrekte Technik dürfen wir die ersten Zielscheiben an großen Strohballen ins Visier nehmen. Herausfordernder sind künstliche, dreidimensionale Hasen, Rehe, Wildschweine oder Fasane, die es inmitten von Bäumen, Büschen und hohem Gras zu treffen gilt. Beileibe nicht jeder Schuss erreicht sein Ziel, so dass wir die Hälfte Zeit mit der Suchen nach Pfeilen zwischen Blättern, am Boden und sogar im Bach verbringen. Aber es gibt auch Erfolgserlebnisse, so dass wir uns wie Amazonen auf der Pirsch fühlen, während um uns herum Vögel zwitschern, Insekten summen und der Wind leise rauscht.
Strauße gucken und Wildpferde streicheln
Eine anderes Spezialgebiet hat sich Gerhard Ebner aufgebaut: Mitten in Winklarn hält er nicht nur 30 Milchkühe, sondern züchtet seit 23 Jahren außerdem erfolgreich Strauße. 50 dieser größten Vögel der Welt hält er mittlerweile aufgeteilt in kleine Gruppen, in denen je ein Hahn über zwei bis drei Hennen wacht. Deren bis zu zwei Kilo schwere Eier lässt der geschäftstüchtige Landwirt – von Lampen und Schmuck aus den Schalen bis zu Nudeln, Bonbons und Likör mit Straußeneidotter – komplett verarbeiten; die fertigen Produkte verkauft er auf seinem schmucken Hof in einem gut sortierten Laden, den er nach vorherigem Anruf öffnet; einmal im Monat führt er Einzelpersonen und kleine Gruppen mit Alleinunterhalterqualität über sein Anwesen. Eine halbe Stunde Autofahrt entfernt erwarten uns noch mehr Exoten im Tierpark der Stadt Haag: 70 Arten aus fünf Kontinenten leben in einem 33 Hektar großen, naturnahen Park unterhalb von Schloss Salaberg. Clara haben es besonders die Baby-Mangalitzaschweine angetan; Sophia verliebt sich in graubraune Tarpan-Wildpferde und würde am liebsten eins davon mitnehmen. Beide zusammen toben sich auf steilen Rutschen, großen Schaukeln und hohen Klettergerüsten aus.
Schlafen im umgebauten Bahnhof
Ganz anderer Art sind die Erlebnisse, die uns rund um den Ötscher erwarten: Nach anderthalb Stunden Autofahrt schraubt sich die Straße in Serpentinen bergauf und -ab durch dichten Wald, in den sich kleine Orte kuscheln. Einer davon ist das einsam gelegene Wienerbruck. Früher verbrachten hier Großstädter, die mit der vor über 100 Jahren gebauten Bahn anreisten, wochenlang ihre Sommerfrische. Heute starten bei schönem Wetter Ausflügler von der Ötscher-Basis zu den Ötschergräben. Praktischerweise sind wir direkt gegenüber in einer von zwei Ferienwohnungen einquartiert. Als „Herzensangelegenheit“ hat Veronika Nutz dafür den ehemaligen Bahnhof gekauft, umgebaut, geschmackvoll modern eingerichtet und von ihrem Mann, einem professionellen Maler, phantasievoll streichen lassen. Zum Frühstück genießen wir die Leckereien vom selbst gebackenen Brot über Bauernbutter, Bio-Ziegenkäse und Quittenmarmelade bis hin zum Tee aus heimischen Kräutern, die unsere hilfsbereite Vermieterin in einem großen Korb gebracht hat. Dann brechen wir zu einer mehrstündigen Wanderung auf – erst am Stausee entlang, dann auf schmalen Pfaden und Brücken durch einen tief eingeschnittenen Canyon, mit dem sich ein Fluss seinen Weg durch die Kalkfelsen gegraben haben. Von den Hängen stürzen wiederholt Wasserfälle in die Tiefe; unten sammelt sich glasklares Wasser in Gumpen und strömt über glattgeschliffene Steine.
Lagerfeuer Romantik und Tropfsteinhöhle
Obwohl es eiskalt ist, wollen die Mädchen unbedingt barfuß in ihm waten. Diese Abkühlung würden auch wir Großen uns am Ende der Strecke wünschen: Von der Jausenstation Ötscherhias geht es steil bergauf, dann in der Ebene am fjordartigen Erlaufsee entlang bis Mitterbach. Heimwärts müssen wir zum Glück nicht zu Fuß marschieren: Mit der Himmelstreppe-Bahn, die für Inhaber der Wilde Wunder Card nur die Hälfte kostet, fahren wir bequem bis vor unsere Haustür. Highlight später am Abend ist eine Fackelwanderung auf dem Bodenhof, die komplett in der Gästekarte inkludiert ist. An Wiesen, auf denen die Haflinger von Familie Schenner zwischen kniehohen Butterblumen weiden, geht es gemeinsam hinunter bis zum Bach und zurück. Anschließend werden am Lagerfeuer Würstchen und Marshmallows gegrillt, während die Kinder auf dem Trampolin hüpfen oder im Stall Dutzende von Kaninchen und Meerschweinchen streicheln. Doch damit noch nicht genug: Ohne einen Cent zu zahlen, können wir am nächsten Morgen von Mitterbach mit dem Sessellift hoch zur Gemeindealpe schweben, von wo aus Gleitschirm- und Drachenflieger vor Gipfelpanorama starten. Nur die rasante Talfahrt mit Mountaincarts kostet extra. Dafür ist die Besichtigung der Nix-Höhle in Frankenfels wieder umsonst: Eine Stunde werden wir bei konstant fünf bis acht Grad Celsius 531 Stufen hoch und runter durch ein Labyrinth aus Gängen geführt, das vor Millionen Jahren während der Auffaltung der Alpen entstand. Unterwegs bilden Tropfsteine bizarre Formen und flösst uns ein 3,5 Meter langes Skelett von Höhlenbär Erich Respekt ein. Sogar eine eine kleine Fledermaus flattert vorbei – eine überraschende Begegnung von vielen in Niederösterreichs „Viertel der Verführungen“.