Was ist das größte anzunehmende Pech im Skiurlaub? Fehlender Schnee. Genau diese „Mangelerscheinung“ erwartet uns in Seis am Schlern oder auf Italienisch Siusi. Wintersporteln können wir trotzdem problemlos. Denn direkt von dem Südtiroler Örtchen, das knapp 20 Kilometer auf einer steilen Serpentinenstrecke von der Brennerautobahn entfernt liegt, schwebt eine Seilbahn in einem Viertelstündchen auf die Seiser Alm. Unterwegs zur Bergstation in Compatsch wirken Wiesen und Wälder erst so, als hätte jemand Puderzucker über sie gestäubt. Dann wird die Schicht jeden Höhenmeter dicker. Auf 1800 Metern angekommen breitet sie sich wie eine gleichmäßige Decke über Europas größte Hochalm.
Beim ersten Besuch geizt diese mit ihren Reizen, weil Wolken die Gipfel von Schlern, Lang- und Plattkofel komplett verhüllen. Fürs Langlaufen spielt das keine Rolle. Auf einer perfekt gespurten Loipe bewegen wir uns über sanft geschwungene Hügel an verstreut liegenden Hütten aus dunklem Holz vorbei. Unterwegs begegnen uns wiederholt Pferdeschlitten mit klingelnden Glöckchen, Spaziergänger, die auf eigens für sie präparierten Winterwanderwegen unterwegs sind, gut gelaunte Familien beim Rodeln und Abfahrtsskiläufer, die trotz Nebel deutlich schneller unterwegs sind als wir. Nach drei Stunden Vorgeschmack auf alle hier oben möglichen Wintersportvergnügen schweben wir in einer blauen Gondel zurück ins Tal unserem Quartier entgegen: dem Hotel Villa Madonna, das am Hang oberhalb von Seis liegt.
Bis zum Abendessen bleibt noch ausreichend Zeit, um unsere müden Muskeln in der Sauna, dem Whirlpool unter freiem Himmel und im Hallenbad zu entspannen. Frisch geduscht und geföhnt genießen wir danach ein Viergänge- bzw. Fünfgänge-Menü. Als Auftakt dürfen wir uns nämlich am Salat- und Antipasti-Büffet selbst bedienen. Dann werden Leckereien von der hausgemachten Pasta bis zum appetitlich dekorierten Dolce serviert, während um uns herum überwiegend italienische Väter, Mütter und Kinder beim Essen plaudern und Don Enrico Minuscoli von Tisch zu Tisch geht. Morgens und abends seine Runde durchs Restaurant zu drehen und sich nach dem Wohl der Gäste zu erkundigen, ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Denn um einen persönlichen Kontakt zu seinen Gästen kümmert er sich genauso mit Herzblut wie um Management und Marketing des Drei-Sterne-Hauses, das der Priester seit 2002 im Auftrag der Diözese Bergamo aufpoliert hat. Mit einer gründlichen Renovierung war es für ihn nicht getan. Vor zwei Jahren hat er einen Trakt mit zehn zusätzlichen Zimmern im modernen, alpinen Stil mit schlichtem Holz, gerahmten Schwarz-Weiß-Fotos mit Südtirol-Motiven an den Wänden und einer Farbgebung in grau-braunen Tönen anbauen lassen, zu dem auch der Wellnessbereich und ein zweiter Speisesaal mit bodentiefen Fenstern und Panorama-Blick auf die Berge gehören. Eine kleine Kirche, wo der Padre regelmäßig die Messe liest, hatte er schon zuvor neben dem Hauptgebäude errichten lassen.
Missionieren möchte er aber niemanden, im Gegenteil. Viel wichtiger als Religion ist ihm ein harmonisches Wohlfühl-Ambiente. Zu dem gehört ein kulinarisches Detail, auf das er sichtlich stolz ist: glutenfreie Gerichte für Gäste, die unter Zöliakie leiden. So können Betroffene bei allen Mahlzeiten unbedenklich schlemmen, weil in einer separaten Küche streng auf die entsprechenden Zutaten geachtet wird. Vor allem Hörnchen, Kuchen und Cookies sehen so verlockend aus, dass sich aber auch wir beim Frühstücksbüffet an ihnen vergreifen.
Stärkung muss schließlich vor dem Alpinskifahren an den nächsten Tagen sein, bei dem uns erfreulicherweise nonstop Sonnenschein begleitet. Vor blitzblauem Himmel markieren die scharf gezackten, über 2500 Meter hohen Kalkfelsen der Dolomiten, die seit 2009 UNESCO Welterbe sind, die Ränder der Seiseralm. Dazwischen breitet sich ein insgesamt 60 Kilometer langes Pistenparadies aus. Fast ausnahmslos autobahnbreit, gut präpariert und meist sanft abfallend überziehen sie das 56 Quadratkilometer große Hochplateau, das man mit 23 Liften und Seilbahnen bequem in einem Tag erkunden kann. Dabei machen die Strecken Panorama und Paradiso ihrem Namen alle Ehre, die wir immer wieder begeistert herunterwedeln. Außerdem hat es meiner Tochter Laurin besonders angetan.
Hier wird jeden Winter ein vorbildlich „geshapter“ Snowpark angelegt – im oberen Bereich mit kleinen Schanzen und Sprüngen, auf denen sich auch Neugierige wie Clara versuchen können, weiter unten mit haushohen Formationen, auf denen sich virtuose Freestyler auf Snowboards und Twintips-Skiern mit Saltos, Schrauben und atemberaubenden Rutschpartien über Geländer und Treppen tummeln. In Sachen Tempo gibt es aber noch Steigerungen. An insgesamt vier Stellen des Skigebiets kann man mit Self Timern, an zwei mit Speedtraps seine Geschwindigkeit messen. Besonders spektakulär ist die Anlage auf dem Goldknopf. Neben der Gipfelstation auf 2200 Metern führt eine kerzengerade, steile Strecke in die Tiefe. 80 km/h sind keine Seltenheit, wie uns die Digitalanzeige wissen lässt, wenn wieder jemand unten angekommen ist. So mancher rast aber auch mit fast hundert Stundenkilometern ins Tal – unglaublich, aber wahr.