Eine Familie auf Weltreise
Dr. Susanne Dyrchs war mit ihrem Mann und zwei Söhnen knapp anderthalb Jahre auf Weltreise. Seit 2019 lebt das Ehepaar mit mittlerweile drei Kindern in einem kleinen, kanadischen Dorf am Meer. Im Interview mit unserer Autorin Antoinette Schmelter-Kaiser erzählt sie, welche Veränderungen das lange Unterwegssein bewirkt hat. Über dieses Abenteuer und Ihr neues Leben in Kanada berichtet Susanne Drychs in ihrem gerade erschienen Buch „Wir-Zeit“!
1. Sie waren mit Ihrer Familie ab Sommer 2017 fast anderthalb Jahre auf Weltreise. Was hat das an Ihrer Beziehung verändert?
Vor der Reise glich das Leben meines Mannes und mir einer Aneinanderreihung von To-do-Listen. Wir waren beide in Management-Jobs tätig, so dass auch der Tagesablauf unserer zwei Söhne straff durchorganisiert werden musste. Wirklich nah waren wir dabei einander viel zu selten, oft gaben wir uns gegenseitig einfach die Klinke in die Hand. Auf unserer Weltreise konnten wir uns aufeinander einlassen, uns austauschen und ganz anders kennenlernen. Aber nicht nur die Beziehung zwischen den Elternteilen hat sich verändert, auch die der Geschwister untereinander und die von uns zu unseren Söhnen ist intensiver geworden.
2. Wie war es, 24/7 zusammen zu sein?
Davor hatten wir zugegebenermaßen großen Respekt, weil unsere Söhne – damals drei und fünf – ja vorher einen Großteil des Tages im Kindergarten, bei diversen Aktivitäten oder ihren Großeltern verbracht haben. Wir alle mussten unsere Komfortzonen verlassen. Eine solch gravierende Kontextänderung ist zwar aufregend, aber zunächst mitunter auch anstrengend. Erst unterwegs stellte ich mir die Fragen: „Wer sind diese kleinen Menschen überhaupt? Was macht sie aus? Was sind ihre Bedürfnisse und wie können wir ihnen gerechter werden?“ Es war faszinierend, sie stundenlang zu beobachten, nicht unterbrechen zu müssen in ihrem Spiel, das die Arbeit der Kinder ist. Viel konnte ich von ihnen unterwegs lernen: Agilität, Kreativität, dem Leben (wieder) mit Neugier begegnen, im Hier und Jetzt leben. Über die Zeit sind sie unheimlich selbständig geworden, haben sich an den jeweiligen Standorten ihren eigenen Radius erschlossen und brauchten uns nicht ständig an ihrer Seite. Das gab mir und meinem Mann wiederum ungekannte Freiräume.
3. Wie genau hatten Sie Ihre Reise geplant?
Wir haben unterwegs Familien kennengelernt, die mit einer Excel-Tabelle gereist sind und genau wussten, wann sie wo sein würden. Nach unserem durchgetakteten Leben von zuvor wollten wir dagegen entschleunigter und ohne Must-See-Liste unterwegs sein. Wir hatten lediglich den ersten. Flug von Frankfurt nach Toronto und die erste Unterkunft gebucht – das war’s. Wir wollten uns bewusst so viel wie möglich treiben lassen, langsam gehen, Umwege machen. Auf Pfaden abseits des Massentourismus wandern. Menschen zuhören und erfahren: Wie leben Familien anderswo in der Welt? Was können wir von ihnen lernen? Zwischendurch ergaben sich Möglichkeiten wie wechselnde Jobs auf Farmen oder als Housesitter, die dazu beitrugen, die Reise auch kostengünstig zu gestalten. Diese Jobs haben uns auf eine Schafsfarm in Australien verschlagen, in eine Villa in Hollywood, auf einen Roadtrip quer durch Neuseeland oder auf eine Pferderanch in Chile. Nichts davon war geplant. Und doch: Irgendwann stellt sich ganz von allein eine Art Weltreise-Alltag ein.
4. Wie haben Sie sich am Ende Ihrer langen Reise gefühlt?
Bei uns selbst angekommen, wieder bei Kräften und einander sehr verbunden – als Familie und als Paar. Und auch bei mir selbst. Ich habe mich sortieren können, herausfinden können: Was will ich vom Leben? Wie wollen wir Familie leben? Mein Mann ging in Köln als Erster wieder voll in seinen früheren Job und kam abends oft traurig nach Hause, weil er uns so vermisst hat. Unterwegs hatte er viel Zeit zum Vatersein. Die Zeit danach war für ihn wie ein Entzug. Auf Reisen hatte auch er sich verändert oder vielmehr wiedergefunden. Ein Management-Job passte da für ihn nicht mehr in sein Leben.
5. Ein knappes Jahr nach Ihrer Rückkehr haben Sie sich wieder auf den Weg gemacht – nach Kanada. Warum?
Es ist uns nach unserer Weltreise nicht leichtgefallen, unser altes Leben in Köln wieder aufzunehmen. Manche gängigen Ziele im Leben wie das Streben nach mehr Anerkennung, Sicherheit und Materiellem haben sich für uns gestrig angefühlt. Erst die Reise hatte es uns ermöglicht, einmal von außen auf unser Leben zu schauen, und uns gleichzeitig die Energie gegeben, nachhaltige Veränderungen anzustoßen. Die entflammte Liebe zur Natur wollten wir auch nicht aufgeben. Deshalb haben wir beschlossen, an den Ort zu ziehen, den wir am schönsten in Erinnerung hatten: die Westküste Kanadas. Hier leben wir nun in einem 1.800 Einwohner-Dorf auf Vancouver Island in British Columbia. Dieser Ort hat uns schon beim ersten Besuch während der Weltreise sofort ein Gefühl des Ankommens gegeben. Hier habe ich auch noch während der Weltreise unser drittes Kind zur Welt gebracht. Die Kombination aus Meer, dichten Regenwäldern und Bergen auf einer Halbinsel im Pazifik ist einzigartig und tut uns supergut. Unser ältester Sohn profitiert besonders, weil seine Neurodermitis und sein Asthma in diesem Klima seit zwei Jahren nicht aufflammen.
6. Wie kann man sich Ihr Leben in diesem kanadischen Dorf vorstellen?
Wir haben uns dort in einer fremden Kultur vollkommen neu orientiert und ein ganz anderes Verhältnis zur Natur entwickelt. Früher waren wir richtige Betonköpfe, die immer in der Stadt waren und nur alle paar Monate im Grünen spazieren gegangen sind. Jetzt laufen wir barfuß über den nahen Strand; die Kinder spielen ständig draußen, wachsen zweisprachig auf; die Großen gehen in eine Schule, wo die Hälfte der Kinder zur Native Community gehören, also Ureinwohner sind, und morgens mit dem „Schulboot“ von anderen Inseln übersetzen. Wir teilen uns diesen Abstrich der Welt mit Bären, Walen, Adlern und Wölfen. Im Winter krachen meterhohe Wellen auf den Strand, manchmal fällt tagelang der Strom aus. Es ist aufregend! Nachdem wir anderthalb Jahre mit zwei Rucksäcken gereist sind, leben wir jetzt bewusst reduzierter, konsumieren weniger und haben nur noch die Hälfte unserer früheren Ausgaben.
7. Wie sieht ihre Work-Life-Balance heute aus?
Ich arbeite remote für eine Strategie-Beratung, wo ich schon vor unserer Weltreise beschäftigt war. Früher habe ich mich dort unersetzlich gefühlt, aber auch zerrissen durch den ständigen Spagat zwischen Familie und Beruf. Die Reise hat mich gelehrt, meine Prioritäten klar zu definieren und auch umzusetzen, gerade in Sachen Life-Work-Balance. Jetzt bringe ich die Kinder morgens zum Schulbus und kümmere mich danach um meine Projekte, Kunden und Teams. Wenn die Kinder zurückkommen, klappe ich meinen Laptop wieder zu. Meinen früheren Perfektionismus habe ich durch einen pragmatischen 80/20 Ansatz ausgetauscht. Das funktioniert bislang erstaunlich gut. Anfangs dachte ich, dass das keine Lösung auf Dauer sein kann. Aber Corona hat gezeigt, dass sich Homeoffice mit Video-Konferenzen aus der Ferne etabliert und die Digitalisierung auch eine Chance für Familien ist. Während ich arbeite, kümmert sich mein Mann um den Kleinsten. Seine Rolle als Vater hat sich durch unsere gemeinsame Weltreise nachhaltig verändert.
8. Hat Ihnen das Unterwegssein Lust auf noch mehr längere Reisen gemacht?
Das Reisen wird immer einen Platz in unseren Herzen haben. Der größte Wunsch unseres Neunjährigen ist es, einen alten Schulbus auszubauen und damit durch Nordamerika zu reisen. Es gibt also noch viel zu tun! Aktuell ist unser Bedarf allerdings erst einmal gestillt. Am Ende geht es ja nicht um das Wohin, sondern vielmehr um das Warum und darum, mit sich und seinen Lieben in einer Balance zu sein – ob zu Hause oder unterwegs. Dabei ist das Ziel fast egal. Das könnte auch in der Eifel liegen.